Viel Lärm um viel!

In meinem letzten Beitrag habe ich über Stille geschrieben, heute geht es um Lärm: Stille kann äußerst heilsam sein, wenn es gelingt, sich darauf einzulassen. An dieses Thema knüpft meine liebe Kollegin Alice Grünfelder an, und bringt es in eine neue Richtung. Ich freue mich sehr, im Rahmen der Blogwichtel-Aktion unseres Netzwerks diesen schönen Gastbeitrag über Lärm veröffentlichen zu dürfen – vielen Dank dafür. Viel Spaß beim Lesen, sich selbst Erkennen und Nachdenken!

 

Texttreff Blogwichteln

„Stille Nacht“ feierte an Weihnachten das 200-jährige Bestehen, stiller ist es in der Welt noch lange nicht geworden mit der lärmenden Materialschlacht des Ersten und den heulenden Jagdbombern im Zweiten Weltkrieg. Noch heute zuckt meine Mutter zusammen, wenn sie tiefes Brummen am Himmel vernimmt.

„Der neue Lärm tobt in unserem Kopf.“

Der technische Fortschritt habe den messbaren Lärm zwar reduziert, doch der Lärm im Kopf habe zugenommen, wie Sieglinde Geisel in Nur im Weltall ist es wirklich still aufschlüsselt. „Der neue Lärm tobt in unserem Kopf. Tausende von Stimmen, Meinungen, Informationen“ und weiter: „Unsere Aufmerksamkeit wird aufgefressen.“ Denn Lärm kündet von Lebendigkeit und Geschäftigkeit, dann erst läuft der Mechanismus wie geschmiert, Stille wäre Stillstand und eine unliebsame Störung im Getriebe. Nicht auszudenken, nicht ein Klong einer eingegangenen Mail in den letzten Stunden – vergessen von der Welt?

Stille kostet – und nicht zu knapp.

Dass der Lärm ein schichtspezifisches Problem sei, von Arbeitern, Schmieden, Küfern und Fabriken ausgelöst, wie es bei Sieglinde Geisel ebenfalls nachzulesen ist (und übrigens auch in Thomas Hettches Pfaueninsel, wenn Marie im 19. Jahrhundert einen Ausflug nach Berlin Mitte unternimmt), interessiert heute nicht (mehr). Andererseits: Das Ausschalten sämtlicher elektronischer Devices muss man/frau sich erst mal leisten können. Und gute Wohnlagen sind ruhig und deshalb auch kostspielig.

Dennoch: Wenn es in einer Moabiter Wohnung in Berlin stiller ist als in einer Zürcher Dachwohnung, glaubt das niemand, ist aber so, und an den zunehmenden Lärm in Zürich kann ich mich einfach nicht gewöhnen; auch wenn Freunde und Bekannte selbst nach 15 Jahren mich mit diesen Worten zu trösten versuchen. Das Glockengeläut am frühen Morgen und Samstagabend Punkt 19 Uhr wird von Mal zu Mal lauter, so scheint es mir. Wenn die Tram in den frühen Morgenstunden auf ihrem kurvenreichen Weg den Hügel hinaufschrammt, weiß ich, wie lange ich schon wach gelegen habe, denn der Glockenschlag zählt unerbittlich auch nachts die Stunden.

Laut wird gesprochen in Zürichs Restaurants, kühle Eleganz kommt ohne Tischdecke und Vorhang aus, die Lärm schlucken könnten. Der ohrenbetäubende Widerhall von grellem Gelächter schrillt in den Ohren, sodass bei Verabredungen schon das ein oder andere Restaurant aus Lärmgründen gemieden wird. Im Gelärme bei großen Tafelrunden, in dem jedes im Ansatz vernünftige Gespräch erstickt wird, ersticke auch ich zunehmend. Schrullig sei er, hieß es einmal über einen, als er sich über den Lärm in einem Gasthaus beschwerte und deshalb die Einladung ausschlug. Schon ein Jahr später gehöre ich offenbar auch zu diesen schrulligen Personen, die sich solchen Runden entziehen, von einem Lärmteppich zugedeckt.

Nichts ist lauter als die Stille in unserem Kopf.

Dann ist da noch ein anderer Lärm, das Hirnsausen, wenn es besonders still ist, sich die zunehmende Stille im Kopf auswächst, nichts ist in diesem Moment lauter und übermächtiger als diese Stille, der ich nicht habhaft werden kann, deren Ursprung mir gänzlich unbekannt ist, auch wenn ich sie im Roman Die Wüstengängerin mehrfach beschrieben habe. Wie laut es in einem sein kann, wenn ringsum alles so still ist wie in einer Wüste, dann ist es die Stille, „die da so dröhnte“.

Ist Lärm also auch Einbildung? Seit Jahren liegt das Buch Sound des Jahrhunderts nur halb gelesen neben meinem Schreibtisch. Es berichtet vom Kriegs- und Industrielärm in einer Art, die unmittelbar ist und mit Lautsequenzen auf der beiliegenden CD bewiesen wird. Es gibt sie, diese Lärmkaskaden, die neuerdings selbst Vögel zu übertönen versuchen, um sich im städtischen Gebalz Gehör zu verschaffen. Ich wundere mich also zurecht, dass mir manchmal das Zwitschern der Spatzen, das raue Gekrächz der Raben so laut vorkommt, dass ich Himmel und Geäst danach absuche, und neuerdings morgens vom Gurren der Tauben erwache.

Eine Frage der inneren Einstellung sei das eigene Lärmempfinden, sagte einmal die Leiterin eines Workshops für Autogenes Training. Man könne sich darüber aufregen oder einfach darüber hingweghören – es läge an einem selbst und beim Training könne man üben, den Lärm zu überhören. Ich bin nicht ganz so zuversichtlich, werde aber daran zu denken versuchen beim nächsten nervigen Lärm.

Alice Grünfelder lebt als Autorin in der Schweiz, arbeitet als Dozentin an der PH St. Gallen und unterrichtet  Allgemeinbildung für Jugendliche. Gelegentlich leitet sie Schreibworkshops für Kinder und Jugendliche, Lektoren und Übersetzer. Gegen den inneren und äußeren Lärm versucht sie, mit Qi Gong anzukommen. Ihr Debütroman “Die Wüstengängerin” erschien 2018.

Beitragsfoto: Ute Freundl

2 Gedanken zu „Viel Lärm um viel!“

  1. Ein spannendes, aktuelles Thema – auch deshalb lese ich so gern, denn wenn ich in eine Geschichte tatsächlich abzutauchen vermag, kann ich alles andere um mich herum ausblenden, eben auch Geräusche. Ob dann allerdings Stille im Kopf ist oder die Stimmen der Protagonisten mir etwas zuflüstern, ist wieder ein anderes Thema …
    Viele Grüße
    Maike

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